Ein merkwürdiger Dialog

“ Ich habe ein Buch geschrieben.“

“Gratuliere.“

“Ein ziemlich dickes Buch. Tausend Seiten.“

“Wie gesagt: Herzlichen Glückwunsch.“

“Ich finde es sehr interessant und gut und auch wichtig.“

“Sonst hätten sie ja kaum so lange daran geschrieben.“

“Ich lese es selber gerne, weil man die vielen wichtigen Details schon mal vergisst.“

“Dann haben sie ja schon einen Leser.“

“Ich könnte mir das auch gut als Fernsehserie vorstellen. 3 Staffeln à 10 Folgen.“

“Bieten sie es doch bei Amazon oder Netflix an.“

“Es ist aber in erster Linie ein Buch.“

“Wie gesagt...“

“Sie verlegen doch Bücher. Gute Bücher. Erfolgreiche Bücher.“

“Stimmt.“

“Schwierige Zeiten für Bücherschreiber, oder?“

“Nein. Schwierige Zeiten, Leser zu finden. Schreiben tut jeder. Kostet so gut wie nichts. Belästigt niemanden, lärmt nicht, schmutzt nicht, erzeugt keinen Müll und man fährt nicht in der Gegend herum und kauft unnötige Dinge. Spart also auch noch Geld und schont die Umwelt. Gut, dass Speicherplatz so günstig ist und man nicht mal mehr Papier braucht. Spart Platz im eigenen Heim und schont den Amazonaswald. Aber zum Lesen? Nein, dafür ist es nicht.“

“Mein Buch sollten aber viele lesen. Vor allem junge Leute.“

“1000 Seiten? Vergessen sie's. Die Aufmerksamkeitsspanne bei den Jungen ist weniger als 10 Minuten, höchstens. Die meisten haben ihr letztes Buch in der Schule gelesen. Unter Zwang.“

“Sie können sich ja Zeit lassen. Ein eBook wäre ganz sinnvoll.“

“Sie scherzen jetzt, oder? In der Zeit, in der die ein so dickes Buch lesen, hat sich die Medienwelt schon wieder verändert. Da müssen die Jungen dran bleiben. Die haben doch keinen eBook – Reader. Nicht mal einen PC. Die haben Smartphones und Tablets und surfen stundenlang durch Facebook, Instagram oder Twitter. 140 Zeichen. Längere Texte werden weggelegt. Wer an irgend etwas Speziellem interessiert ist, sucht bei Google und Wikipedia.“

“Die wissen doch gar nicht, was sie wollen. Oberflächliche Bande.“

Seufz. “ Ja, da haben sie recht.“

“Sie kennen sich doch aus. Was braucht denn ein erfolgreiches Buch heute?“

“ Wenn ich das wüsste, wäre ich reich. Sex, drugs and rock'n roll, nein crime vermutlich. Und love natürlich. Die alternden Frauen, die noch lesen, mögen so etwas.“

“Kommt alles vor.“

“Ein Krimi? So mit viel Blut und coolen Mördern?“

“Nein. Ein Geschichtsbuch.“

“Wie bitte?“

“Biopic würde das als Film heißen.“

“Um was geht’s?“

Dass diese Frage wirklich jetzt schon kommt, ist unwahrscheinlich. Es könnte höchstens sein, dass ihm ein paar erfolgreiche Biopics eingefallen sind, von Promis. Aber immerhin hat er/sie so weit mitgemacht. Vermutlich hätte er/sie lieber gefragt: “Um wen geht’s?“

“Es geht um die zehn Jahre von 1935 bis 1945.“

“Ach, ein Weltkriegsroman. Ja, da schlummern einige Ladenhüter herum.“

“Um eine tatsächlich existierende Person, einen Piloten.“

“Ah ja.“

“Ich würde das nicht einen Weltkriegsroman nennen. Es geht mehr um den ungeheuren Sprung in der Technologie, den neuartigen Einsatz der Medien in der Politik und der damit verbundenen Änderungen in der Geschichte der Menschheit.“

“Wow. Also eine ganz große Sache.“

“Ist es in der Tat. Ich meine nicht das Buch, sondern diese Zeitspanne. Und gerade junge Leute sollten damit ein Gefühl für Geschichte bekommen. Das haben sie nämlich völlig verloren.“

“Ein Erziehungsroman. Danach sehnt sich die Jungend von heute.“

“Weil sie irrtümlich meint, alles zu wissen.“

“Sie haben ja recht. Aber wir sind ein Verlag, der mit den Schwierigkeiten kämpfen muss, die die neue Technik mit sich bringt. Erfolglose Bücher können wir uns nicht oft leisten.“

“Dann machen sie es zu einem Erfolg. Sie können das viel besser als ich. Ich kann nur schreiben.“

“Können sie das? Haben sie denn schon veröffentlicht?“

“Begonnen mit Fachartikeln in renommierten Zeitschriften, dann drei Fachbücher, zum Beispiel über Künstliche Intelligenz, dann zwei Sachbücher und schließlich noch zwei Romane. Die allerdings nur elektronisch mit Hilfe von epubli.“

“Und die Sachbücher?“

“Bei Franzis und Hanser.“

“Gute Verlage. Wie verkaufen sich die Romane?“

“Gar nicht. Sie stehen irgendwo in den unendlichen Weiten des Universums von Amazon etc. herum.“

“Gute Antwort, weil sie ehrlich ist. Keine eigene Werbung mit Hilfe von Facebook, Literaturportalen oder was da sonst noch von einschlägigen Firmen und allgegenwärtigen Beratern angeboten wird? 'Einen Bestseller schreiben - Anleitung in 7 Schritten. Sie kennen das vermutlich.“

“Sie sind doch Fachmann. Von richtiger Werbung habe ich keine Ahnung.“

“Wer soll denn ihren Wälzer lesen?“

“Alle.“

“Ganz schlechte Antwort.“

“Ich finde schon, dass es jeder lesen sollte.“

“Sie kennen ihre Zielgruppe nicht und haben trotzdem etwas geschrieben. Das geht schief, glauben sie mir.“

“Drehen wir den Spieß um. Wer ist die Zielgruppe von 'Das Boot' oder 'Winter der Welt' oder 'Mitternachtsfalken' oder 'Nachtflug'?“

“Holla. Mit diesen messen sie sich? Ziemlich arrogant, finden sie nicht?“

“Man muss sich hohe Ziele stecken.“

“Schon. Aber diese Autoren sind berühmt.“

“Vorher schon oder nachher? Berühmt will ich übrigens gar nicht werden.“

“Was wollen sie dann?“

“Ein perfektes Buch schreiben und damit Geld verdienen.“

“Also, das was so ziemlich jeder Autor will.“

“Weiß ich nicht. 'Jeder' interessiert mich nicht. Ich bin nicht so drangegangen, dass ich überlegt habe, wie schreibt man einen Bestseller.“

“Sondern?“

“Ich hatte einfach das Bedürfnis, diese Geschichte niederzuschreiben. Aber so, dass sie spannend und unterhaltsam ist.“

“Darf ich fragen, woher dieses Bedürfnis kommt?“

“Es ist die Geschichte meines Vaters, der an dem wunderbaren Fliegerleben gescheitert ist, weil die Verhältnisse so waren.“

“Gut. Akzeptiert. Da gibt es was Ähnliches. Von Braunburg. 'Der verratene Himmel', ein Fliegerroman aus dem Zweiten Weltkrieg. Ist es so etwas?“

“Nein, ganz und gar nicht. Bei dem gibt es nur dauernd katastrophale Situationen mit viel Krach und Gestank und dazwischen wird ein bisschen Liebe gemacht. So kann das nicht gewesen sein.“

“„Das ist wegen sex and crime. Ist doch richtig, oder?“

“Mag sein. Für ihn. Ob das Buch erfolgreich ist, weiß ich nicht.“

“Ich auch nicht. Ist nicht von uns. So etwas würden wir nicht machen. Nicht in der heutigen Zeit.“

“Schauen sie sich mein Buch doch einmal an?“

“Ach, du meine Güte. Womit haben sie eigentlich bisher Geld verdient?“

“Mit Software-Entwicklung und über 20 Jahre Mittelmanagement bei renommierten Firmen.“

“Als da wären?“

“MBB, Deutsche Aerospace, Daimler, Sandoz, jetzt Novartis.“

“Das ist eine gute Reputation. Warum sind sie nicht dabei geblieben?“

“Seit fast zehn Jahren in Rente.“

“Ach so, ja. Natürlich. Entschuldigung. Genießen sie das doch. Gehen sie ihren Hobbys nach. Spielen sie doch Golf. Achten sie auf ihre Gesundheit, damit sie dem System ordentlich lange auf dem Geldbeutel liegen. Und lassen sie's gut sein.“

“Hobby ist für mich das schlimmste Schimpfwort.“

“Interessant. Aber noch einmal zu ihnen. Wenn sie im Management waren, wissen sie doch, wie Verkaufen geht.“

“Ich war sogar zehn Jahre selbstständig als Unternehmensberater zu dem Thema, das man heute 'big data' nennen würde.“

“Na also. Dann wissen sie doch, wie man jeden Blödsinn verkauft.“

“Aber an wenige, große Kunden mit viel, viel Geld in den Firmenzentralen. Das ist etwas anderes.“

“Sehen sie. Damit kenne ich mich nicht aus.“

“Sie sind für mich so ein Großkunde.“

“Ach so sehen sie das.“ Er/sie lacht.

“Genau.“

“Haben sie so tatsächlich Aufträge gewonnen?“

“Millionenaufträge. Aber das war schon etwas anderes. Das Thema war mega-in. Alle wollten so etwas und wir waren diejenigen, die überzeugen konnten. Mit unserer Kompetenz.“

“Und ihr Thema jetzt ist nicht greifbar. Es gibt keinen aktuellen Bedarf, es ist nicht im aktuellen Trend.“

“Das gilt aber für viele Bücher, oder? Man weiß es nicht - vorher.“

“Nein. Eine Biografie eines Promis, echt oder pseudo, ein weiterer Reißer eines Erfolgsautors. Das geht schon ganz gut.“

“Trifft alles nicht zu. Außerdem schwärme ich mehr für Camillieri, Vargas oder Saint- Exupéry.“

“Exklusiver Geschmack. Gibt es denn wenigstens einen erwähnenswerten Anlass?“

“80 Jahre Beginn des Zweiten Weltkriegs.“

“Mhm.“

“Die Ängste der Menschen vor der Entwicklung der Technik.“

“Aber sie schreiben doch vom letzten Jahrhundert.“

“Da nahm alles seinen Anfang.“

“Mhm.“

“Der Sprung in der Technik war ungeheuerlich.“

“Ich muss jetzt leider weiter. Es war sehr interessant, mit ihnen zu plaudern. Ich wünsche ihnen viel Erfolg und ein schönes, langes Leben. Machen Sie's gut.“

“Halt.“

“Sorry. Keine Zeit mehr.“

“Ich bin noch einer der wenigen lebenden Quasi – Zeitzeugen. Später wird es nur noch Historiker geben, die kein normaler Mensch liest. Folglich können sie gar nicht mehr erkennen, dass alles, was jetzt gerade geschieht, in Russland, in den USA, in der Türkei, in Ungarn, in Polen, bei uns in Form der AFD alles schon mal da war und genau dahin geführt hat, wo es wieder hinführen wird. Jedes Werk, das diesen Zusammenhang aufzeigt, ist wichtig. Die Leute interessieren sich schon dafür. Die vielen Dokus in den Bildungskanälen beweisen das. Aber diese Dokus sind falsch. Sie sind im Stile der Umerziehungsfilme von Hitchcock gemacht. Sie zeigen die Grausamkeit und beispiellose Unmenschlichkeit, zum Beispiel des Holocaust, der übrigens nie ausgelassen wird. Diese Dokus sind gefährlich.“

“Warum, um Himmels Willen, sollen die gefährlich sein. Sie zeigen doch gerade, was nie mehr vorkommen darf.“

“Sie täuschen sich, mit Verlaub. Die Konsumenten dieser Dokus sind sich alle einig, dass ihnen so etwas nie passieren würde. Solche Abartigkeiten sind endgültig vorbei, alte Geschichte. Die Menschheit hat daraus gelernt. Leider nur waren die damaligen Menschen auch nicht schlechter. Im Gegenteil, sie waren besser gebildet im humanistischen Sinne. Vor dem Dritten Reich. Und sie sind hineingeschlittert, ohne es rechtzeitig zu merken. Die dumpfen Triebe haben gesiegt, weil sie im Deckmäntelchen hehrer Ziele daher kamen. Eine bessere, friedliche Welt für das Volk und eine Entwicklung zu Sicherheit und Wohlstand für alle. Das ist es, wofür sich kämpfen lohnt, oder? Und wofür am Ende alle Mittel recht sind. Blind gehen wir schon wieder in diese Falle.“

“So pessimistisch sind sie?“

“Ich habe genau das bei meinem Vater gesehen. Ein humanistisch gebildeter, kritischer Geist, immer liebevoll und niemals grausam, trotzdem ist er gescheitert.“

“Hmm.“

Es bleibt offen, was dieses 'Hmm' bedeuten wird.