Sachbuch Denken ist so eine Sache

Frisch erschienen im Juli 2022



ISBN 978-3-756514-07-6 als Softcover, ISBN 978-3-756517-48-0 als eBook


Interessiert an den großen Fragen des Lebens? Kein Grund zur Beunruhigung. Dafür können Sie nichts, dafür sind Ihre Gene verantwortlich. Viele Menschen lassen allerdings andere diese mühselige Arbeit machen und plappern sie nach, mehr oder weniger kritiklos. Wenn Sie das nicht wollen, denken Sie doch mal selbst. Gar nicht so leicht übrigens im Zeitalter von globalen und sozialen Massenmedien, Konsum- und Zeitvertreibsangeboten aller Art.
Mich treibt die Frage, wie das Denken funktioniert und ob man es nachbauen kann, schon seit 50 Jahren um als jemand, der die Entwicklung des Computers von den Anfängen an beruflich miterlebt hat. Heute glaube ich zu wissen: Wir werden es nicht herausbekommen und nachbauen sowieso nicht. Also, alles Nachdenken überflüssig? Nein, ganz und gar nicht. Wie das immer so ist, bringt uns der Weg wichtige Ergebnisse und nützliche Erkenntnisse über uns selbst und unsere Mitmenschen. Als Ausgangspunkt dient mir die evolutionäre Erkenntnistheorie von Konrad Lorenz und Karl Popper. Sie sorgt für eine etwas bescheidenere Sicht auf die Welt. Und gleichzeitig für das Staunen und den großen Respekt vor den Fähigkeiten der Natur. Um dies zu verstehen, benötigt man kein Fachstudium, sondern nur schlichtes, diszipliniertes Denken. Viel Spaß.


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Leseprobe:


Gedichte und insbesondere Lyrik haben mich früher nie interessiert. Rilke ist etwas für pubertäre, unreife Schwärmer. Ich bin schließlich Naturwissenschaftler und damit nicht nur der Logik verpflichtet, sondern auch ein glühender Anhänger geistiger Strenge, der sich Einsteins Unterscheidung von Denkgewohnheit und Denknotwendigkeit zu eigen gemacht hat.

Das hat sich eigentlich nicht geändert. Ich bin nur auf etwas gestoßen, was mich zugegebenermaßen irritiert hat.

Es ist dieses Gedicht von Baudelaire und es ist der Anlass, dass ich dieses Buch schreibe. Ich habe gegoogelt, dass es verschiedene Übersetzungen davon gibt. Eine hat mich tief berührt.


„Komm, meine schöne Katze,

an mein verliebtes Herz;

zieh nur die Krallen deiner

Tatze ein und lass mich

tief in deine schöne Augen

tauchen, in deren Glanz Metall

sich und Achat vermischen.“


Warum ist die Wirkung so? Das ist eine teuflisch schwere Frage. Viel schwerer noch als sie auf den ersten Blick vermuten lässt.

Wie Sie später immer wieder lesen werden, besteht mein Trick, etwas zu ergründen aus der (theoretischen) Konstruktion einer Maschine, die ebendies leistet.

Bauen wir also so eine Maschine. Es handelt sich natürlich um einen Computer. Wir fangen an, eine Software zu schreiben und merken schnell, dass das nicht so einfach geht. Fachleute würden das KI nennen. Also mit PYTHON programmieren. Ist gar nicht so schwer, diese Computersprache.

Neben den Grundfunktionen 'Text lesen' und 'Text ausgeben' muss unsere Software den Text syntaktisch zerlegen. Für eine Überprüfung muss sie alle Regeln der deutschen Sprache wissen. Also Worttypen wie Substantive, Verben, Adjektive, Adverbien, Pronomen und so. Die ganzen Konjugations- und Deklinationsmöglichkeiten. Dazu die möglichen Satzkonstrukte. Das ist nicht einfach zu realisieren. Aber andere haben es schon ziemlich gut gemacht. Sind wir also zuversichtlich, dass das geht.

Ab jetzt wird es schwieriger: Die Semantik. An diesem Thema wird in der KI derzeit ordentlich geforscht. Was das ist? Nun, Steine fahren nicht, Autos träumen nicht oder Kühe tanken nicht. Solche Konstrukte wären syntaktisch einwandfrei, aber ansonsten einfach sinnlos, also falsch.

Wir verbinden noch die Wörter der deutschen Sprache mit einer Wissensdatenbank, vor allem einer, in der auch noch viel benutzte Redewendungen gespeichert sind. Gibt es. Für die Entwicklung der Software keine große Sache, für die Rechenleistung, die wir benötigen allerdings eine gewaltige Herausforderung.

Jetzt ergänzen wir noch das Thema Versmaß, also zum Beispiel Jambus, Trochäus oder Daktylus. Sollte nicht so schwer sein, wenn man bei den Wörtern auch noch die Betonung speichert. Das macht man mit dem alternativen phonetischen Alphabet. Ist ein bisschen mühsam, aber das geht.

So, ein erster Versuch: Wir geben das Gedicht ein und lassen unsere neue Software eine Bewertung erzeugen.

Nach einiger Zeit spuckt sie das Ergebnis aus:

o Es ist ein Gedicht.

o Das Versmaß ist Daktylus.

o Das Versmaß wird unerlaubt an manchen Stellen gebrochen. Kann sinnerhaltend verbessert werden.

o Dass die Katze kommt, ist unwahrscheinlich. Katzen kommen im Regelfall ohne Anlockung durch Speisen nicht.

o Dass die Katze schön ist, ist eine subjektive Betrachtung. Dazu fehlt ein Kriterium für 'schön'.

o Ein Herz kann nicht verliebt sein. Verliebt ist ein Begriff, der nur auf eine ganze Person angewendet werden kann.

o Beim Einziehen der Krallen besteht eine Ungenauigkeit, da die Tatze im Singular die Möglichkeit der Auswahl aus vier Tatzen, über die eine normale Katze verfügt, erschließt. Das wurde aber nicht spezifiziert.

o In Augen tauchen ist nicht möglich. Tauchen setzt eine genügend große Flüssigkeitsmenge, im Regelfall Wasser voraus.

o Glanz entsteht durch einen Flüssigkeitsfilm auf dem Augapfel. Glanz ist somit keine Eigenschaft des Auges. Die Reflexivität 'deren Glanz' ist somit falsch angewendet.

o Metall und Achat vermischen sich nicht. Achat ist eine Varietät von Quarz mit der Mohshärte 7. Eine Mischung mit Metallen setzt eine vorhergehende mechanische Bearbeitung voraus (Zerreiben, Auflösen in Säure oder Ähnliches). Die Eigenschaften der Mischung, insbesondere das Aussehen ist ohne spezifischere Angaben nicht vorhersagbar.

o Dass durch den Glanz die beiden Stoffe vermischt werden, ist nicht möglich, da Glanz kein Material ist, sondern eine energiearme Lichterscheinung.

o Gesamtbeurteilung der Gedichtqualität: 3 von 10 Punkten.


Wenn er meint, der Computer. Da habe ich wohl etwas Falsches programmiert.

Auf der Suche nach besseren Algorithmen wird es schwierig. Mein Freund Werner fand das Gedicht nämlich blöd, langweilig und schnulzig.

Also könnte ich maximal meinen eigenen Geschmack programmieren. Aber wie? Nach welchen Kriterien? Lass mich doch einmal feststellen, warum mir das Gedicht so gut gefällt:

Es hat einen wunderbaren Sprachrhythmus. Der Übersetzer hat das unglaublich gut getroffen. Das ist wie Musik in meinen Ohren. Außerdem liebe ich Katzen und kann mir die erwähnte Katze genau vorstellen. Anschmiegsam, schnurrend, unbestechlich und weggehend, wenn sie genug hat. Oder dableibend und die Krallen mit einem drohenden Fauchen doch wieder ausfahrend. Die Tatzen sind wunderbar weich - ohne die Krallen. Und dann die Augen. Die Härte und Unerbittlichkeit von Stahl und die verzaubernde Schönheit des Farbspiels von Achat. Wie Katzen halt so sind. Ein paar Augenblicke voller Entspannung und Glücksgefühle.

Das nächste Mal verzückt mich der Anblick eines Bergsees im Abendlicht, ein Bild von Kandinsky oder Mozarts Requiem oder ein mir bisher unbekannter Titel von Sting. Keine Ahnung, was noch auf mich zukommt, was solche Momente auslöst.

Das ist der Punkt: Das alles ist nämlich vollkommen algorithmusungeeignet. Weil wir gar nicht vorher wissen, und damit auch nicht beschreiben können, was möglicherweise ein so schönes Gefühl auslöst. Klar wird es mit dem Alter besser eingrenzbar, was gute Gefühle auslösen wird und was Ekel. Wie zum Beispiel für mich die momentan aktuelle Geräuschentwicklung, hergestellt von Computern und präsentiert von völlig untalentierten, aber nach dem Zeitgeschmack gestylten Personen, die die Jungen 'ihre' Musik nennen. Aber das ist eine Betrachtung unter Zuhilfenahme vergangener Erlebnisse. Erlebnisse, bei denen häufig Verschiedenes zusammentraf. Ein nachträglicher Algorithmus hilft da nicht weiter, denn er würde zukünftige Überraschungen ausschließen. Und die gibt es, immer wieder einmal. Außer man denkt, dass alle Wohlfühlereignisse bereits in der Kleinkindphase endgültig festgelegt werden. Das möchte ich nicht und meine Erfahrung spricht gottlob eindeutig dagegen.

Ich hole noch etwas aus, wegen der Denkgewohnheiten und der Denknotwendigkeit. Nehmen wir Musik. Als ich hauptsächlich pubertär war, kamen die Beatles zum Vorschein. Auch jetzt, gut 50 Jahre später, liebe ich sie. Mein Freund Jürgen B. Ist zehn Jahre älter. Er liebt coolen Kneipenjazz. War gerade in, als er pubertär war. Jetzt könnte man sagen: Aha, da wurde es geprägt. Pubertät, erstes Knutschen und so. Falsch. Damals habe ich lebenskulturbedingt noch keinerlei Berührung mit, sagen wir einmal Bach. Den habe ich erst viel später kennengelernt. Und nichts bewegt mich so wie Musik von ihm. Übrigens: Die Popmusik der 60er bis 90er Jahre war eindeutig um Welten besser als das heutige Angebot. Der Computer hat keine neuen Möglichkeiten geschaffen, er hat sie abgewürgt. Kein Instrument lernen und alles eine Maschine machen lassen, führt nicht zu guten Ergebnissen.

Das mit dem Geschmack, der Schönheit und den Gefühlen wird die Maschine also nie können. Und zwar deswegen, weil wir ja wissen müssten, wie wir sie programmieren sollen.

Jetzt kann einer einwenden: Wenn wir das Selbstlernen einer KI-Software weiter verbessern, wird die Maschine das schon einmal von sich aus richtig machen.

Das Dumme ist nur: Es gibt kein richtig. Richtig ist in diesem Bereich etwas sehr Individuelles und auch noch Stimmungsabhängiges. Die Maschine wäre dann nur ein Klon meiner Person. Dieses ungeahnt große Problem beschäftigt uns in einem späteren Kapitel – von der anderen Seite her.

Ha, werden Sie sagen. Der redet jetzt von Gefühlen. Es geht doch ums Denken in diesem Buch, oder?

Dieser Einwand erzeugt bei mir ein überhebliches Grinsen. Ich übergebe, im sicheren Gefühl des Rechthabens, an Herrn Kant:

„Der Mensch jedoch schöpft die Bestimmungsprinzipien seines Willens nicht allein aus Vernunft, er ist kein rein vernünftiges Wesen, sondern ein teilvernünftiges, ein mit einem sinnlich-affizierten Willen ausgestattetes partielles Vernunftwesen.“

Das, was außer der Vernunft noch seinen Willen bestimmt, sind nach Kant die Neigungen, Komponenten unserer sinnlichen Veranlagung, die auf dem Gefühl der Lust und Unlust beruhen. (von Wikipedia abgeschrieben)

Und weil das so ist, ordnet der Mensch auch sein Denken oft genug seinem Willen unter. Glauben Sie nicht?

Warum gibt es dann konträre Meinungen, die sich nach sachlicher Tatsachenkärung dennoch nicht ausgleichen lassen?

Das stimmt nicht, sagen positiv eingestellte Menschen. Man hat nur noch nicht lange genug diskutiert.

Dazu ein, zugegebenermaßen konstruiertes, Beispiel:

Anna: „Das Auto mag ich nicht.“

Bernd: „Ich würde es kaufen.“

Anna und Bernd sind verständige, moderne Menschen, die schon eine Menge Teambildungs- und Konfliktbewältigungsseminare besucht haben. Sie wissen, was zu tun ist.

Anna: „Wir nehmen uns die verschiedenen Eigenschaften dieses Autos und bewerten die getrennt.“

Bernd: „Mhm. Bei den Eigenschaften sollten wir uns schnell einig werden. Zähl' schon mal auf, liebe Anna.“

Anna: „Gut. Ladies first. Die Farbe, die Form, das Ambiente, der Kofferraum, die Bequemlichkeit der Sitze. Automatik und NAVI.“

Bernd: „Da ist aber nicht alles. Die PS, also KW heißt das heute, das Geräusch, die Felgen und der Status.“

Anna: „Typisch. Aber ich bin einverstanden. Nur die Felgen lassen wir weg. Okay?“

Bernd: „Na gut. Jetzt bewerten wir die einzelnen Elemente. Von -10 bis +10. Ich fange schon mal an.


Es gab einige Diskussionen, aber es gelang, Kompromisse zu finden. Die Farbe bekam +2, die Form -3, das Ambiente +6 und so fort. Am Ende zählten sie alles zusammen und kamen auf +2.

Bernd: „Prima. Dann kaufen wir es also.“

Anna: „Nicht so hastig. Wir haben etwas Entscheidendes vergessen.“

Bernd: „Und das wäre, liebe Anna?“

Anna: „Ich finde, der Status und die PS gehen in die Bewertung mit gleicher Gewichtung ein. Aber das sind Dinge, die sind mir völlig gleichgültig. Wichtig ist doch die Bequemlichkeit und der Kofferraum.“

Bernd. „Aber Anna. Die Sitze sind doch heute bei allen Autos gut und der Kofferraum? Ob der ein paar Liter mehr oder weniger hat, was soll's.“

Anna: „Aber die PS sind wichtig und die Marke, oder? Ich brauch' kein Auto zum Angeben. Ein Auto muss nützlich sein.“

Bernd: „Die Marke spielt sehr wohl eine Rolle. Diese hier ist zuverlässig und steht für modernste Ingenieurtechnik.“

Anna: „Und was hab ich von modernster Ingenieurtechnik? Die haben doch alle Autos heute, mehr oder weniger.“

Bernd: „Und eine ordentliche Leistung sorgt für viel größere Sicherheit. Beim Überholen zum Beispiel.“

Anna: „Dann überhol' halt nicht. Bringt doch eh nichts bei dem Verkehr heute.“

Bernd: „Ihr blöden Grünen. Am liebsten wäre euch gar kein Auto. Das möchte ich mal sehen, wie ihr mit dem Fahrrad alles macht. Dass ich nicht lache.“

Anna: „Du wirst unsachlich. Ich will schon ein Auto...“

Bernd: „Willst du gar nicht.“

Anna: „Genug geplaudert. Wir kaufen die Karre nicht. Das hat das Schema ergeben. Und damit Basta.“

Bernd: „Das Schema hat eindeutig ergeben, dass wir das Auto kaufen sollen. Plus 2 ist eindeutig.“

Anna: „Aber falsch. Das sagte ich schon.“


Wie es weiter geht, weiß ich nicht. Fest steht, dass die beiden Meinungen nicht vereinbar waren, trotz systematischer und verständiger Vorgehensweise. Woran lag das wirklich?

Es kommt das ins Spiel, was Kant die sinnlich – affektierte Komponente bezeichnet. Bernd war der Komfort einfach nicht wichtig und Anna nicht die PS-Zahl. Woher diese Gewichtung kommt, liegt tief verborgen und stammt ziemlich sicher aus mittlerweile unbewussten Erfahrungen mit früheren Ereignissen, die ein gutes Gefühl erzeugt haben. Keiner kann zum Beispiel objektiv begründen, warum das Gefühl von Geschwindigkeit großartig ist. Wer versucht, das rational zu begründen, etwa mit dem schnelleren Ankommen, geht an der Wahrheit völlig vorbei.

Der persönliche Wunsch und Wille bestimmt letztlich die Wichtigkeit und Gewichtung der Argumente. Logisch ist das nicht, aber ein Bestandteil des Denkens und auch noch ein sehr bedeutender. Und deswegen werde ich mich auch in diesem Buch damit befassen.

Eines beruhigt mich aber jetzt schon:


Die Maschinen werden uns eventuell ausmerzen, aber überlegen sind sie uns nicht. Diesen Stolz können sie uns nicht nehmen.


Ende der Leseprobe